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Stuttgart aktuell

Zuallererst:
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Nachverdichtung, Sinn und Seuche

Seit Jahren schwebt der Begriff Nachverdichtung über der Landeshauptstadt. Auf den ersten Blick scheint das einer klaren Logik zu folgen, nämlich der Nutzung von Brachen und Baulücken. Zu einem gewissen Grad kann man diesem Begriff sogar einen ökologischen Wert zuschreiben. Aber die Überschrift „Nachverdichtung“ bekommt bei näherem Hinsehen noch ganz andere Bedeutungen. So kann es passieren, dass man eine grüne Freifläche in einem dichtbebauten Gebiet mit Wohnraum auffüllt, eine Fläche, die auch als Lücke einen ökologischen Wert hat. Gäbe es ehrliche Messungen zum Stadtklima, wäre sogar manch Häuserblock zu entkernen und aus asphaltierten Hinterhöfen müssten Grünstreifen werden, um ein besseres Stadtklima zu erreichen. Die Alibidachbegrünung eines Neubaus an dieser Stelle fängt das nicht auf, weil das gebundene Wasser dort einer größeren Hitzeeinwirkung ausgesetzt ist, als im tiefer liegende Grün, welches im Tagesverlauf Schatten erhält.

Nachverdichtung heißt aber auch, vor allem in Nachkriegssiedlungen Wohnraum abzureißen um an der Stelle etwas mehr Wohnraum zu schaffen, wie in Rot oder im Hallschlag, was an Wohnraumgewinn einen schlechten Nettowert enthält. Zudem haben Abriss, Entsorgung, Transport und Neubau eine unökologische Fußspur, die sich erst nach sehr vielen Jahren amortisiert.

Die Frage ist immer auch, wo verdichte ich mit welcher Struktur? Die Intensivierung der Flächennutzung geschieht genauso in Arbeitervierteln, wie auch in noblen Wohngegenden, dort freilich auf anderem Bauniveau.

Beispiel 1: In Freiberg entstehen gerade in großem Maße Wohnbauten entlang der Mönchfeldstraße. Das ist schön und auch gut. Allerdings haben die einen gewichtigen Teil an Sozialwohnungen. Dies wiederum geschieht in einem Stadtteil, wo es ohnehin schon viele davon gibt. Das ist nach allem städtebaulichen Erkenntnissen der falsche Weg. Der Freiraumwert ist in Freiberg recht hoch mit den Grünzonen von Feuerbach und Neckar, mit Eschbachwald und Rebhängen. Das steigert die Wohnqualität gemessen am dichten Wohnen. Immerhin hat Freiberg ungefähr doppelt so viele Einwohner als Zazenhausen auf ungefähr der gleichen Siedlungsfläche. Dass es solche und solche Stadtteile geben muss, ist völlig klar, aber es muss auch für die ungewisse Zukunft geplant werden. Stuttgart lebt seit Jahrzehnten vom wirtschaftlichen Erfolg und von einem hohen Arbeitsplatzangebot. Sollte es der Stadt aber irgendwann mal wirtschaftlich schlechter ergehen, dann sind es Stadtteile wie Freiberg, Giebel oder Neugereut, die sozial zuerst kippen. Das sind Stadtteile, die so lange noch halbwegs gut durchmischt sind, solange die Wohnungsnot in der Metropole extrem hoch ist, was im Schatten des wirtschaftlichen Erfolges des Fall ist. Kippt solch ein Stadtteil, wir kennen das aus Frankreich oder Großbritannien, dann entzieht sich auch ein Teil der Bevölkerung der staatlichen Kontrolle, entsteht eine Eigendynamik parallel zum Staatswesen. Dem kann ich nur vorbeugen, indem ich Bürger, die von sozialen Leistungen abhängig sind, in guten Zeiten möglichst über das Stadtgebiet verteilt ansiedle, was umgekehrt heißt, in Freiberg den Bestand an Sozialwohnungen zu senken und das Eigentum zu erhöhen, um dort Mittelstand zu binden, möglichst auch innerhalb von Straßenzügen und sogar von einzelnen Wohnblocks. Gegen Nachverdichtung spricht hier nichts, aber gegen die angestrebten Strukturen. Es gibt Stadtbezirke, die haben eine sehr geringe Soziallast und dort muss diese im Gegenzug sensibel erhöht werden, auch durch lokale Dezentralisierung.

Beispiel 2: Jeder Stadtteil hat seine eigene Geschichte, egal ob seit Jahrhunderten oder seit Jahrzehnten. Damit einher geht auch eine eigene Baugeschichte und oft ein gewachsenes Aussehen. Nimmt man den Stadtteil Frauenkopf, so ist der von kleinen Häuschen mit Gärten geprägt. Zunehmend entstehen dort aber größere Wohnanlagen, die nicht dem Ortscharakter entsprechen. Das heißt, ein Investor erwirbt zwei, drei benachbarte Grundstücke und baut anstelle der einzelnen Häuschen einen Gebäuderiegel hinein. Diese optische Verseuchung findet an vielen Stellen im Stadtgebiet statt. Klassisch hierfür ist die Ludwigsburger Straße auf Höhe der Haltestelle Zuffenhausen Rathaus. Rund um den alten Kelterplatz ist ein großer Block entstanden, der zwar durch seine Rundung und den Rottönen noch halbwegs harmonisch wirkt, aber das ist nicht das Maß der Zuffenhäuser Altstadt. Gegenüber sind sechs kleine Häuser gefallen, die schlüssig in das alte Ortsbild gepasst haben. Sie werden nun durch zwei mächtige Blöcke ersetzt, die nichts mehr mit dem Ortscharakter zu tun haben und das einst schöne Entree entstellen. Der Blick auf die schöne Pauluskirche ist verstellt und das Aussehen der hübschen Straßen dahinter nicht mehr erahnbar.

Ein ähnliches Beispiel ist das Roser-Areal in Feuerbach, das man zur Stuttgarter Straße hin mit wüsten Klötzen zugestellt hat, die wie eine Faust ins Stadtbild schlagen. Da hatte die alte Fabrik deutlich mehr Feuerbacher Charakter. Fast jeder kennt das in seiner Stuttgarter Umgebung. Was gerade auf der Südseite des Möhringer Bahnhofs passiert, was man an moderner Stadtwüste neben dem Mineralbad Berg geschaffen hat, alte Häuser völlig degradierend, das ist ein Verbrechen am Stadtbild. Im Moment ist einer baulichen Unkultur durch Verwaltung und Gemeinderat Tür und Tor geöffnet. Die Pläne werden aufgrund theoretischer Planung erstellt, aber sicher nicht von Planern, die diese Orte kennen, schätzen und mögen. Nun will man im Klimawahn auch noch den Denkmalschutz torpedieren unter dem Deckmantel von Sanierung und Nachverdichtung.

Hinter all dem steht die Verweigerung der Stadt, neue Stadtgebiete zu generieren. Man hat sich einzig mit dem Rosensteinviertel geschmückt. Andere Pläne wurden abgespeckt. Von einst bis zu 6.000 Einwohnern beim Autobahnkreuz war mal die Rede. Davon ist man mittlerweile weit entfernt und es ist nicht klar, wann dort überhaupt jemals etwas entsteht. Im Stadtteil Neckarpark hat man die einst erträumte Personenzahl noch in der Planungsphase mehr und mehr zusammengestrichen, so dass auch dieses Wohngebiet kaum Entlastung für die Stadt bringen wird. Der Großteil des neuen Stadtteils Rosenstein wird wohl erst in den 30er-Jahren begonnen werden können. Sollte Stuttgart 21 nicht wie propagiert funktionieren und ein Teil der heutigen Gleise erhalten werden, würde eine völlige Umplanung das Projekt noch weiter in die Zukunft schieben.

Nachverdichtung ist die Verweigerung neue Bauflächen zu erschließen. Es ist nicht „grün“, keine Freiflächen zu überbauen, denn was Stuttgart verweigert, entsteht im Umland. Das haben wir über die letzten 50 Jahre erlebt. In den Speckgürtel ziehen zudem nicht die Sozialfälle, sondern der Wohlstand. Im Heckengäu, Schönbuch, Strohgäu und in den nahen Flusstälern sind viele Orte förmlich explodiert, mit der Folge, Pendlerverkehr zu erzeugen und die Naherholungsflächen vor den Toren der Stadt zu reduzieren, wozu auch die Zerschneidung durch neue Hauptstraßen gehört. Das ist unökologisch, denn Wohn- und Arbeitsraum gehört in die Stadt, wo die öffentlichen Verkehrsmittel dafür ausgelegt sind. In Stuttgart rettet man nicht die Landwirtschaft des Südwestens, denn das ist auch gar nicht die Aufgabe einer solchen Stadt. Die Bauverweigerung ist zudem unökologisch, weil der Flächenverbrauch pro Kopf in ländlichen Neubaugebieten wesentlich größer ist, als in Großstädten. Dort macht man mehr Freifläche kaputt, zerschneidet mehr Naturräume und trägt mehr zum Artensterben bei, als dies vergleichsweise bei Projekten in Städten der Fall ist.

Im Stuttgarter Rathaus aber wartet man geduldig, bis der Druck hoffentlich irgendwann mal nachlässt, verweist immer wieder auf die Region. Das ist feige und falsch, doch man will keine Verantwortung übernehmen. Das Feigenblatt der Nachverdichtung ist ein Hauch im Wind und die Zahlen der dadurch zu erzielenden Nutzfläche rein theoretisch. Stuttgart verliert zudem den Anschluss an andere Städte, die hier deutlich aktiver sind. Frankfurt ist längst enteilt, München schon gar nicht mehr erkennbar und nun steht die Schwabenmetropole kurz davor, von Düsseldorf und Leipzig überholt zu werden. Die Neubauverweigerung trägt auch eine Mitschuld an den hohen Mietpreisen, was im Nachschlag dazu führen könnte, das Stuttgart mittelfristig Unternehmen in die Region verliert. Immer wieder argumentiert man diese Fakten weg, mit fadenscheinigen Statistiken und Berechnungen, dabei ist dies längst kein Geheimnis mehr.